Nach dem Heer und der Marine hat sich nun auch die russische Luftwaffe unsterblich blamiert – indem sie eine Bombe über der russischen Stadt Belgorod ausklinkte. Die immer neuen Pannen bei den russischen Streitkräften lassen eine Unruhe wachsen, die am Ende auch dem russischen Präsidenten schaden könnte.
Die Menschen in der russischen 400.000-Einwohner-Stadt Belgorod hatten Glück im Unglück. Die Bombe, die ein Kampfjet der russischen Luftwaffe in der Nacht zum Freitag aus noch ungeklärter Ursache über ihrer Stadt ausklinkte, traf eine in diesem Moment zufällig unbelebte Straßenecke.
„Auf der Kreuzung einer der Hauptstraßen hat sich ein riesiger Krater mit einem Radius von 20 Metern gebildet“, teilte der Gouverneur der Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, mit. Zwei Frauen seien leicht verletzt worden.
Wäre ein Gebäude getroffen worden, hätte es Tote gegeben: Die Wucht der Explosion ließ in umliegenden Wohnblöcken Scheiben bersten, Autos wurden durch die Luft geworfen, Strommasten gekappt.
Die Blamage der russischen Luftwaffe
Das Verteidigungsministerium in Moskau räumte ein, dass ein Kampfjet vom Typ Su-34 die Bombe abgeworfen hatte. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass sprach, ohne Einzelheiten zu nennen, von einem Notabwurf („emergency ejection“).
In Nato-Kreisen führte die rätselhafte Meldung am Freitag zu ungläubigem Kopfschütteln. „Keine Luftwaffe der Welt“, sagen westliche Experten, würde im Fall einer wie auch immer gearteten technischen Notlage ihre Bomben über den eigenen Bevölkerungszentren ausklinken.
In Berlin deuten Experten auf einen doppelten Engpass bei Russlands Luftwaffe. „Vieles funktioniert da schon technisch nicht richtig, hinzu kommt ein eklatanter Mangel an guten Piloten“, sagt Nico Lange, bis 2022 Chef des Leitungsstabs im Bundesministerium der Verteidigung. Moskau habe zudem wachsende Probleme bei der Instandhaltung der Kampflugzeuge. Dabei spiele offenbar auch ein Ersatzteilmangel wegen der westlichen Sanktionen eine Rolle.
Zu dieser Einschätzung passen Vorkommnisse, bei denen immer wieder russische Kampfjets ohne Feindeinwirkung jäh zu Boden gingen – über eigenem Territorium. So bohrte sich im vorigen Jahr in der russischen Stadt Jejsk am Asowschen Meer ein russischer Su-34-Bomber in ein achtstöckiges Wohnhaus. Die Triebwerke hatten aus ungeklärter Ursache Feuer gefangen. Die Piloten retteten sich per Fallschirm. In dem Haus starben 16 Menschen.
Mehr Glück hatten zwei russische Familien in Irkutsk: Sie waren gerade nicht zu Hause, als am 23. Oktober 2022 um 17.30 Uhr Ortszeit die russische Luftwaffe ihr zweistöckiges Apartmentgebäude dem Erdboden gleichmachte. Die Piloten eines russischen Mehrzweckkampfflugzeugs vom Typ Typ Su-30 hatten die Kontrolle über ihre Maschine verloren, sie starben in den Trümmern.
Das Nato-Hauptquartier in Brüssel registriert seit Monaten eine auffallende Zurückhaltung der russischen Luftwaffe. Zuletzt fiel auf, dass russische Maschinen ihre Marschflugkörper seltener als früher vom Kaspischen Meer aus abfeuern, sondern zum gleichen Zweck nur kurz von ihrem Luftwaffenstützpunkt aufsteigen: Offenbar will Moskau auf diese Weise Flugstunden sparen und Wartungsintervalle verlängern.
Von Anfang an, sagen westliche Beobachter, seien die russischen Luftstreitkräfte nicht in der Lage gewesen, den in modernen Armeen üblichen sogenannten Kampf der verbundenen Waffen zu praktizieren. Nie habe man die russische Luftwaffe als Teil eines mit Heer und Marine kommunizierenden und gut funktionierenden Netzwerks erlebt. Spektakulär gescheitert sei bereits ganz zu Beginn der Invasion die von Russland versuchte Einnahme des Flughafens Hostomel bei Kiew.
Dass Russland trotz massiver materieller und zahlenmäßiger Überlegenheit in den ersten Kriegsmonaten keine Lufthoheit über der Ukraine errungen habe, sei die eigentliche Blamage der russischen Luftwaffe. Inzwischen allerdings sei es für russische Maschinen am Himmel über der Ukraine wegen der wachsenden Zahl westlicher Flugabwehrsysteme tatsächlich gefährlicher geworden denn je. Die von den USA, Deutschland und den Niederlanden in den vergangenen Wochen gelieferten Patriot-Systeme zum Beispiel sind in der Lage, russische Bomber im Umkreis von 150 Kilometern aufzuspüren und abzuschießen.
Die Blamage der russischen Marine
Russischer Bombenabwurf auf eine russische Stadt: Die Blamage von Belgorod ist nur das jüngste Beispiel einer langen Serie von Pleiten und Pannen, die sich zunehmend zu einer einzigen Peinlichkeit für den Obersten Befehlshaber aller russischen Truppen auswachsen: Staatschef Wladimir Putin.
Putin, der gelernte Geheimdienstmann, stand und steht der Arme stets misstrauisch gegenüber. Immer wieder hat er seit Kriegsbeginn Generäle entlassen, Führungsstrukturen umgekrempelt und der regulären Armee sogar noch eine Art Wettkampf mit privaten Kämpfern der Söldnerfirma Wagner zugemutet. Herausgekommen ist allerdings nichts Gutes. Militärisch reiht sich ein Desaster an das andere, quer durch alle Teilstreitkräfte.
Die größte Blamage der russische Marine ereignete sich am 14. April 2022: Der Lenkwaffenkreuzer „Moskwa“, das größte und wichtigste russische Schiff im Schwarzen Meer, sank auf den Meeresgrund – nach Beschuss durch zwei ukrainische Antischiffsraketen vom Typ Neptun.
Militärexperten in aller Welt wunderten sich über den raschen Untergang. Die „Moskwa“ war ein modernes Schiff, in das Russland dreistellige Millionenbeträge investiert hatte, unter anderem für ein sogenanntes mehrschichtiges Abwehrsystem. Die Peinlichkeit für Putin wuchs, als bekannt wurde, dass es den Ukrainern offenbar gelungen war, die „Moskwa“-Besatzung durch einen Angriff mit einer Bayraktar-Drohne abzulenken.
Die Blamage des russischen Heers
Bei Nato-Beobachtern ist der Respekt vor dem russischen Heer schon in den ersten Kriegstagen gewichen. Putins Landstreitkräfte hatten Probleme, untereinander zu kommunizieren und wichen mitunter sogar auf spontan am Wegesrand gekaufte Mobiltelefone aus – was der ukrainischen Seite bei der Aufklärung und der Ortung ihrer Ziele half. Einen so unprofessionellen Auftritt der russischen Armee hatte niemand erwartet.
Als bizarr und als „Gegenteil einer klugen Strategie“ gilt nach wie vor der bis zu 60 Kilometer lange Stau russischer Militärfahrzeuge vor Kiew – der bekanntlich zum Vordringen in die Stadt nichts beitrug, sondern sich als seinerseits angreifbar erwies.
Als spektakulärste jüngste Blamage des russischen Heers wird im Westen die von Russland versuchte Panzeroffensive bei Wuhledar gesehen. Dort waren russische Panzertruppen in eine gigantische Hightechfalle der Ukrainer getappt.
Bei ihren Versuchen, ein Minenfeld zu durchqueren, wurden die russischen Kämpfer von allen Seiten durch immer weitere Minen umschlossen, die zeitgleich durch moderne westliche RAAM-Artilleriesysteme („Remote Anti-Armor Mine“-System) durch die Luft verlegt wurden. Im Ergebnis wurden nach ukrainischen Angaben mehr als 100 Panzer auf diese Art gestoppt und unschädlich gemacht. Die Zahl lässt sich nicht überprüfen, fest steht aber, dass die befürchtete russische Winteroffensive sich nicht zu entfalten vermochte.
Gerät bald auch Putin in den Blick?
Der russische General Rustam Muradow, der die Taktik der Ukrainer bei Wuhledar verkannte, soll Anfang April von Putin entlassen worden sein. Am 19. April wurde zudem, inmitten einer vom Kreml überraschend angeordneten Bereitschaftsübung, der Kommandeur der russischen Pazifikflotte abgelöst.
Fraglich ist, wie lange Putin politisch noch damit durchkommt, stets die Schuld für alles den Militärs zuzuweisen. Längst mehren sich, etwa im Messengerdienst Telegram, Hinweise auf wachsende Kritik am Präsidenten selbst.
Einige der in Russland einflussreichen Militärblogger machen inzwischen darauf aufmerksam, dass Putin häufig persönlich in Fragen des Vorgehens an der Front Entscheidungen getroffen habe. Die russische Zensur nähert sich nur zaghaft bestimmten Bloggern, die zwar Kritik üben, aber insgesamt eine prorussische Moral hochhalten.
Die amerikanische Denkfabrik Institute for the Study of War schrieb in ihrem Lagebericht vom 20. April über neue Strömungen in den sonst eher Putin-freundlichen Kanälen. So habe ein prominenter russischer Militärblogger den ineffektiven Einsatz der russischen Luftlandetruppen, der Marineinfanterie und der Spetsnaz-Spezialkräfte in der Ukraine kritisiert: Allzu oft verlasse sich das russische Heer bei der Durchführung von Bodenangriffen in der Ukraine auf diese drei Spezialkräfte, „weil es an qualitativ hochwertiger Infanterie mangelt“.
Indirekt wird damit die Frage aufgeworfen, ob es weise war, dass Putin in seinen überhasteten Mobilisierungsbeschlüssen auch auf Schwerverbrecher zurückgriff, denen im Gegenzug für Fronteinsätze die Haftstrafen etwa für Mord oder Vergewaltigungen erlassen wurden. In der regulären russischen Armee gibt es viele, die mit solchen Truppen nichts zu tun haben wollen.
Angesichts der Vielzahl von Blamagen und armeeinternen Missklängen stellt sich aus westlicher Sicht die Frage: Gerät bald auch Putin als Urheber der Probleme in den Blick? Eins jedenfalls steht fest: Die politische Brisanz dieser Fragen ist enorm. In dem Moment, in dem die Armee aus Angst vor immer neuen Blamagen dem Präsidenten die Gefolgschaft verweigert, würde sich der Lauf der Geschichte ändern.