Zum fünften Mal innerhalb von zwei Jahren hat Bulgarien ein neues Parlament gewählt. Die instabilen Verhältnisse zeigen sich auch in politischen Debatten, die geprägt werden durch Soziale Medien und eine Flut an Desinformation.
Bulgarien steht auch nach der erneuten Wahl vor einer ungewissen politischen Zukunft. Für Unruhe sorgten unmittelbar vor den Wahlen Bombendrohungen gegen Schulen in mehreren großen Städten, unter anderem in Sofia.
Cyber-Experten vermuteten im bulgarischen Rundfunk, es handele sich möglicherweise um extremistische Hackergruppen, die Panik und Angst verbreiten wollten, mutmaßlich aus Russland. Sprengkörper wurden in den betroffenen Schulen nicht gefunden.
Bulgarische Schüler sollen angeblich an die Front
Der Einfluss Russlands auf das Land, die Politik und die Medien bereitet vielen Fachleuten Sorgen. Russische Propaganda zur EU und NATO sowie dem Überfall auf die Ukraine ist in Bulgarien weit verbreitet, wird auch von prominenten Politikern übernommen.
Zuletzt kursierte beispielsweise die Falschmeldung, bulgarische Schüler sollten militärisch ausgebildet und dann in die Ukraine geschickt werden, um dort gegen Russland zu kämpfen. Wie so oft bei solchen Falschmeldungen steckt ein wahrer Kern darin, wie ein Faktencheck des bulgarischen Rundfunks zeigt: Tatsächlich sollen Schülerinnen und Schüler über militärische Strategien unterrichtet werden. Allerdings rein theoretisch und lediglich wenige Stunden. Weder seien praktische Übungen geplant, noch sei es aus militärischer Sicht in irgendeiner Form hilfreich, schlecht oder gar nicht ausgebildete Kämpfer einzusetzen, wie Fachleute dem Rundfunk erläuterten.
Facebook als Nachrichtenagentur
Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Staaten spielt in Bulgarien Facebook bei der Verbreitung von Informationen und auch Desinformation noch bis heute eine überragende Rolle. Der politische Diskurs finde auf der Plattform von Meta statt, sie funktioniere wie eine Nachrichtenagentur für die großen Medien im Land, stellte der Schriftsteller Georgi Gospodinov bei einer Konferenz des Medienprogramms Südosteuropa der Konrad-Adenauer-Stiftung am Dienstag in Sofia fest.
Eine Ursache für Facebooks riesigen Einfluss: Es fehlten große Qualitätsmedien und Zeitungen in Bulgarien. Dies stellt auch der Forscher Ruslan Stefanov fest, der ausführte, dass der Mangel an guter politischer Führung das Misstrauen gegen die Demokratie noch vergrößere. Und dieser Mangel an Vertrauen fördere die Verbreitung von Falschmeldungen und Desinformation – sowie die Zustimmung zu autoritären Ideologien.
Dazu kommt eine Medienlandschaft, die durch Abhängigkeit von der Politik und Oligarchentum geprägt ist. Zudem, so erklärt es Stefanov vom Center for Study of Democracy in Sofia, käme eine ältere Generation von Journalistinnen und Journalisten, die es gewohnt sei, russische Quellen zu benutzen und ihnen zu vertrauen – und dies bis heute tun. So habe eine Untersuchung gezeigt, dass mehr als ein Viertel aller Meldungen, die von der staatlichen Nachrichtenagentur BTA publiziert wurden, zugunsten Russlands seien oder auf Angaben der russischen Nachrichtenagentur TASS basierten. Es gebe daher die Sorge, so Stefanov weiter, die bulgarische Nachrichtenagentur sei ein trojanisches Pferd für russische Desinformation in der EU.
Eine relevante Rolle spielt auch die russische Botschaft in Sofia in diesem Kontext, die mit ihren Postings eine große Reichweite entwickelt, mutmaßlich durch die Unterstützung von automatisierten oder nicht-authentischen Konten in sozialen Medien, und so Themen in Bulgarien setzen kann.
Haare im Brot und kaltes Wasser im Bad
Die russischen Narrative über eine irrationale und komplett marode EU werden in der bulgarischen Öffentlichkeit und Politik immer wieder aufgenommen, wie verschiedene Beispiele zeigen: Sei es die angebliche Genehmigung der EU, menschliches Haar in Brot zu verarbeiten oder die Falschmeldung, in Westeuropa hätten die Menschen kaum noch Nahrung und würden bald ihre Haustiere verspeisen.
Solche angeblichen Katastrophenszenarien tauchen seit Monaten in russischen Medien immer wieder auf, werden aber auch in anderen Staaten wie Bulgarien übernommen. So griff der Tourismusminister der bulgarischen Übergangsregierung Ende 2022 die Falschbehauptung auf, in Westeuropa gebe es kein warmes Wasser mehr und pries in einem Interview mit „Nova TV“ die Vorteile Bulgariens als Reiseziel an: „Touristen sind jetzt frei. Einer der Slogans lautet ‚Urlaub ohne Einschränkungen‘. In Europa ist es ihnen verboten zu baden usw., und bei uns können sie sich ausruhen, wie sie wollen.“
Feindbild „Gender“
Unter anderem die nationalistische und pro-russische Partei Vazrazhdane („Erweckung“) ist einer der Haupttreiber für diese Art der Desinformation. Die Partei agitiert gegen die Einführung des Euro in Bulgarien – und insbesondere die „Gender Ideologie“ sei zu einem Kampfbegriff gegen die EU und liberale Werte geworden, erklärt die Journalistin Irina Nedeva im Gespräch mit tagesschau.de.
Der Begriff „Gender“ sei wie ein teuflischer Geist, der durch die Debatten spuke, sagt die Vorsitzende der „Association of European Journalists“ in Bulgarien. Dazu gehöre auch der abwertend gemeinte Begriff von „Gayropa“ für das westliche Europa; wie in Russland seien es verschiedene nationalistische sowie populistische Politiker, aber auch Vertreter der orthodoxen Kirche, die dieses Feindbild immer wieder bedienen.
Das Feindbild „Gender“ sei seit dem Jahr 2017 besonders populär, als es die bis dahin größte Kampagne in Bulgarien zur Desinformation gegeben habe, erklärt die Journalistin – und zwar gegen die Istanbul Konvention. Das Abkommen soll Frauen und Mädchen effektiver vor Gewalt zu schützen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, Diskriminierung von Frauen zu verhindern und die Rechte von Frauen zu stärken.
Gegen das Abkommen liefen Politikerinnen und Politiker verschiedener Parteien Sturm. Der damalige Verteidigungsminister sprach von einem „skandalösen Text“ und übernahm die Falschbehauptung, durch die Konvention sollte ein drittes Geschlecht legalisiert werden. Der Diskurs über die Konvention war geprägt von Falschbehauptungen, nach denen die Konvention Werbung für die gleichgeschlechtliche Ehe in Schulen fördern solle. Auch die orthodoxe Kirche positionierte sich mit irreführenden Behauptungen gegen das Abkommen.
Bis heute wird in Bulgarien argumentiert, die Konvention sei nicht mit bulgarischem Recht vereinbar. Hintergrund ist, dass der englische Begriff „Gender“, der die soziale Konstruktion von Geschlechterrollen beschreibt, allein auf biologische Geschlechter bezogen wird.
Politik vermeidet LGBTQI*-Thema
Mutmaßlich motiviert durch den großen Erfolg der Kampagne gegen die Konvention haben Populisten in den folgenden Jahren Versuche gestartet, verschiedene Referenden anzustoßen. So beispielsweise gegen die Einführung des Euro, für die Transformation des parlamentarischen Systems in ein präsidiales System oder gegen die Einführung der „Gender-Ideologie“ in das Bildungssystem.
Die Journalistin Ivanov sagt, viele Politiker würden seitdem Themen wie LGBTQI*-Rechte vermeiden, da diese durch Desinformation kaum noch sachlich zu diskutieren seien. Vielmehr würde dann unmittelbar der Vorwurf erhoben, man wolle die traditionelle Familie abschaffen.
Russische Propaganda auf Ministerebene
Und so blicken viele Fachleute wenig optimistisch in die Zukunft Bulgariens. Während der Pandemie war die Skepsis gegenüber westlichen Impfstoffen hier besonders ausgeprägt, und auch wenn nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine das Ansehen Putins deutlich sank, wurden die ukrainischen Streitkräfte doch weithin als unorganisierte Banden von Neonazis dargestellt, die Zivilisten als Schutzschilde benutzten und Kriegsverbrechen gegen ukrainische Bürger begingen, um diese dann Russland in die Schuhe zu schieben. Auch geflüchtete Ukrainer sind Gegenstand und Ziel von Desinformation und Falschmeldungen. Sogar Minister der damaligen Regierung übernahmen die Propaganda des Kremls, wonach es sich bei dem Angriffskrieg lediglich um eine Spezialoperation handele.
Einige Faktencheck-Projekte, die teilweise von der EU oder internationalen Stiftungen gefördert werden, versuchen, die Flut der Desinformation einzudämmen. Zudem ist das neu eingerichtete Ministerium für E-Government die erste bulgarische Institution, die aktiv gegen Desinformation vorgehen will. Doch Fachleute sehen dies nur als erste Schritte.
Forscher Stefanov stellt in einer Analyse fest, Bulgarien befinde sich noch in der Anfangsphase, um die Verbreitung von Desinformation einzudämmen und den öffentlichen Diskurs zu schützen. So seien tausende IP-Adressen blockiert worden, die mit russischer Desinformation in Verbindung gebracht worden seien. Zudem habe es Gespräche mit Meta gegeben, um das Vorgehen gegen Falschmeldungen auf Facebook zu verbessern – mit wenig Erfolg. Einmal mehr nimmt die Plattform bei der Verbreitung von Desinformation eine unrühmliche Rolle ein – und reagiert offenkundig auch nur auf wachsenden öffentlichen Druck, der in Bulgarien bislang allerdings noch fehlt.
Quelle: https://www.tagesschau.de/faktenfinder/desinformationen-wahl-bulgarien-101.html