Russische Reservisten sollen nur mit Gewehr und Spaten in den Angriff geschickt worden sein, Panzertruppen werden mit jahrzehntealten Sowjetpanzern aufgefüllt, die häufiger von selbst den Geist aufgeben, als von der Ukraine ausgeschaltet werden. Wie groß ist der Materialmangel?
Es war eine ungewöhnliche Meldung, die sich am Sonntag verbreitete: Die Russen kämpfen in der Ukraine angeblich schon mit Spaten, weil ihnen die Ausrüstung ausgeht. Hinter der Nachricht steckt eine Veröffentlichung des britischen Geheimdienstes, die in ihrem täglichen Briefing von Waffen- und Munitionsengpässen auf russischer Seite berichtete. Russische Reservisten sollen nur mit „Schusswaffen und Spaten“ zum Angriff geschickt worden sein. Dabei handele es sich um den gängigen Klappspaten vom Typ MLP-50, der 1869 entwickelt wurde und sich seitdem kaum verändert hat. Dieser Spaten müsse nun auch für den Nahkampf eingesetzt werden.
Doch was ist an dem Bericht des britischen Geheimdienstes wirklich dran? András Rácz, Experte für Russlands Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), hält die Darstellung des Geheimdienstes für realistisch. „Dass einige mobilisierte Soldaten nur mit Gewehr und Späten an die Front geschickt wurden, kann ich mir gut vorstellen“, sagt er im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Als die Mobilisierung begann, mussten viele Soldaten ihre Ausrüstung selbst kaufen, sogar den Schlafsack und die kugelsichere Weste.“ Mobilisierte Soldaten erhalten in Russland oft nur eine schlechte, manchmal aber auch gar keine Ausrüstung.
Die seit Herbst mobilisierten Russen, von denen etwa 80.000 direkt an die Front geschickt und die übrigen 220.000 auf russischen und belarussischen Übungsplätzen trainiert wurden, seien deutlich schlechter ausgestattet als die Soldaten der regulären Armee und die Söldner der Wagner-Privatarmee, erklärt Rácz. Der Grund: „Russland war auf diese Mobilisierung absolut nicht vorbereitet.“ Das letzte Mal, dass Moskau eine Mobilisierung angeordnet hatte, sei 1945 während des Zweiten Weltkriegs gewesen. Heute mangele es noch immer an Ausbildung und Ausrüstung für die zusätzlichen Soldaten.
Zwar gibt es offiziell riesige Reserven an Waffen und Schutzkleidung für die mobilisierten Russen. „Aber diese Bestände fehlen aufgrund von Korruption oder sind wegen schlechter Lagerung unbrauchbar“, erläutert Rácz. Die reguläre Armee erhalte dagegen die standardisierte Ausstattung und Bewaffnung. Aber selbst dort gebe es Fälle, in denen Soldaten ihre eigene Ausrüstung gekauft haben, weil die Qualität so schlecht sei. „Es herrscht in ganz Russland ein chronischer Mangel an Ausrüstung und Waffen, und diese mobilisierten Soldaten leiden nun unter den Folgen.“
In der Ukraine kämpfen inzwischen etwa 400.000 Russen. Das sind mehr als doppelt so viele wie zu Beginn des Krieges. Die Militärexperten des Institut for the Study of War (ISW) in Washington berichten, dass Russland nun erneut mit großen Rekrutierungskampagnen begonnen hat. „Russische Telegramkanäle begannen mit der Werbung für die Rekrutierung in bestehende Freiwilligenbataillone, nachdem sie solche Rekrutierungsaufrufe wegen der Mobilmachung im September 2022 eingestellt hatten.“ Russische Beamte sollen auch mobile Rekrutierungszentren eingerichtet haben. Nach ukrainischen Angaben soll Russland auch in den teilbesetzten Regionen Luhansk und Donezk Ukrainer für den Militärdienst registriert haben, darunter auch Jugendliche, die 2006 geboren wurden, so das ISW.
Der Schwerpunkt der Angriffe liegt im Donbass, auf der Region Donezk. Hunderte russische Soldaten sollen dort laut Kiew täglich getötet oder verletzt worden sein. Seit der Mobilisierung soll die Zahl der russischen Opfer enorm gestiegen sein. Zu diesem Zeitpunkt kamen deutlich mehr Reservisten mit mangelnder militärischer Erfahrung an die Front. Nach heutigen Standards sei die Quote an Gefallenen sehr hoch, so der britische Geheimdienst. Dies liege wohl auch an einer unzureichenden medizinischen Versorgung.