Kamerun 2025: Notizen eines Reporters aus einem „multikrisengeplagten“ Land, in dem das Geld schneller ausgeht als die Hoffnung
Lead: Der Puls einer erschöpften Nation
In Douala blinken die Ampeln wie vergessene Kulissen in einem staubigen Theater. Mototaxis rasen bei Rot – ohne Helm, ohne Versicherung, ohne Illusionen. Am Straßenrand werden Tabletten „gegen alles“ für ein paar Münzen angeboten. Und alle verkaufen alles: Das Land ist ein einziger großer Markt für europäischen Müll. Zwischen Lärm und Staub liegt eine seltsam trotzig wirkende Ruhe derer, die gelernt haben, nur auf sich selbst – und auf seltene Kartons mit NGO-Logos – zu zählen.
Hinter den trockenen Zahlen – 3,3 Mio. Menschen in humanitärem Bedarf, 2,1 Mio. als Zielgruppe im Humanitarian Response Plan (HRP) 2025 und benötigte 359,3 Mio. US-$ – steckt eine einfache Geschichte: Das Geld fehlt akut, und die menschliche Erschöpfung hat längst die rote Linie überschritten. Das sind nicht nur Einträge auf humanitarianaction.info – das sind Familien, deren Rationen nie ankommen, Kinder, die wegen überfluteter Brücken die Schule verpassen, und Gemeinden, für die Hoffnung zum Luxus wird. Ich bin diese Straßen abgelaufen, habe mit vertriebenen Menschen gesprochen und gesehen, wie Widerstandskraft sich beugt, aber (noch) nicht bricht.
1) Schmerzkarte: Ein Land im Daueraufschaukeln
Multikrisen sind in Kamerun Alltag. Seit neun Jahren überlagern sich:
ein schwelender Konflikt im Nordwesten und Südwesten (NWSW),
Gewalt und Übergriffe im Extremen Norden (Becken des Tschadsees),
Flüchtlingszuflüsse aus der ZAR und Nigeria,
wiederkehrende Überschwemmungen sowie Ausbrüche von Masern, Polio, Mpox, Cholera und Gelbfieber.
Quellen: OCHA, UNICEF, UNHCR, IPC
Vertreibung: das blutende Herz
Ende 2025 leben über 2,1 Mio. Menschen in erzwungener Vertreibung: rund 1,7 Mio. Binnenvertriebene/Rückkehrer plus ~426–432 Tsd. Flüchtlinge und Asylsuchende (vor allem aus ZAR und Nigeria). In der Praxis: überfüllte Schulen als Notunterkünfte, Frauen, die nachts Gewalt fürchten, Kinder ohne Wurzeln. Neue displacements durch Überschwemmungen und Zusammenstöße treiben die Zahlen weiter.
Quelle: UNHCR Kamerun
Nahrung & Lebensgrundlagen: Überleben nach Phasen
Zwischen April und August 2025 sind rund 2,2 Mio. Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit (IPC Phase 3+) betroffen. Besonders hart trifft es NWSW und den Extremen Norden; Konflikte blockieren Felder und Märkte.
Quelle: ipcinfo.org
Gesundheit: die tickende Bombe
Ausbrüche überrollen unterfinanzierte Kliniken. Die Behandlung akuter Kinder-Mangelernährung ist bestenfalls sporadisch; Programme stoppen mangels Mitteln auf halbem Weg. Neun von zehn Regionen sind betroffen – Gewalt, Klimaschocks und Epidemien bilden einen Teufelskreis der Verwundbarkeit.
Aus dem Extremen Norden erinnere ich Dörfer, in denen eine Nacht Hochwasser die Ernte wegspült – und Familien aus Lehm und Sturheit neu anfangen. In Yaoundé kaschieren lebhafte Märkte die gleiche Armut: Geflohene aus dem Norden schlagen sich nun in den Slums durch.
2) Finanzierung: Das schwarze Loch 2025
Selbst für chronisch unterfinanzierte Kontexte ist 2025 verheerend. Zur Jahresmitte war der HRP-2025 nur zu ~13 % gedeckt – 46–47 Mio. US-$ von benötigten 359,3 Mio. US-$; gegen Sommerende pendelten Schätzungen um ~15 %. Die tatsächliche Reichweite der Hilfe lag fast halbiert gegenüber Juni 2024. Das spiegelt globale Kürzungen und die „Konkurrenz der Krisen“.
Quelle: OCHA
Fünf Jahre Hilfe (alle gemeldeten Flüsse laut FTS/OCHA)
2022: 271,7 Mio. US-$
2023: 161,7 Mio. US-$
2024: 199,4 Mio. US-$
2025 (YTD am 12. Juni): ≈46,7 Mio. US-$ (rund 13 % von 359,3 Mio.)
Quellen: fts.unocha.org, humanitarianaction.info
Globaler Kontext: ALNAP, GHO/GHA-2025-Berichte; s. auch Berichte u. a. bei Reuters
Infografik: Balkendiagramm „Kamerun: humanitäre Finanzierung (FTS), 2021–2025 YTD“.
3) Vor Ort: Wo Hilfe auf Realität trifft
Rationen & Cash. Rationen werden kleiner, Auszahlungen verzögern sich, Ausgabestellen schicken Menschen mit leeren Händen heim. Programme werden „auf Pause“ gesetzt – wörtlich.
Quelle: UNICEF – Mid-Year 2025
Wasser, Sanitär, Kliniken. Mobile Teams kommen seltener, Chlor-Tabletten sind „am Limit“. In einem Posten in Kousseri sagte eine Schwester den Satz des Jahres: „Wir haben alles – außer allem.“
„Apotheken“ ohne Garantie. Private Lädchen verkaufen Medikamente aus Hilfslieferungen – teils über ein Jahr überfällig. Das sind Feldbeobachtungen von Bewohnern und Helfer:innen und bedürfen gesonderter Prüfung; strukturell begünstigen Intransparenz der Lieferketten und Sub-Grants den Missbrauch.
Zur Nachvollziehbarkeit von Flüssen: FTS; Debatte zur Lokalisierung: ALNAP
Mototaxis – die Lebensader. Es sind eng vernetzte Zellen; viele Fahrer stammen aus Mali, Burkina Faso und Niger. Sie halten die städtische Logistik am Laufen – bezahlen mit Verletzungen und Strafen. Regulierungsversuche beim Import alter Autos hinterließen einen fahrbaren Schrottplatz: keine Scheinwerfer, Armaturen voller Warnlampen, einzig die Hupe funktioniert zuverlässig – an ihr orientiert sich der Verkehr. Studien zu Douala/Yaoundé zeigen einen überproportionalen Anteil von Motorradunfällen an der städtischen Unfallstatistik.
(akademische/branchenspezifische Publikationen 2024–2025)
Gesetze gibt es – Durchsetzung nicht. Ampeln, StVO, Strafzettel – alles „da“, aber häufig wirkungslos. Der Korruptionswahrnehmungsindex (CPI-2024) gibt Kamerun 26/100 und Platz 140 von 180 – das spürt man. Genannte „Bußgelder“ fürs Fahren ohne Führerschein lagen bei rund 10 € – Feldbeobachtung, keine offizielle Gebühr.
Quelle: Transparency International – CPI 2024
Die Stadt als Elegie. Ehemals viktorianische Villen, gepflasterte Straßen – heute Krater und Paletten mit Altreifen. Die Schönheit ist nicht tot – verschwunden sind jene, die sie pflegten. An ihre Stelle trat die Logik des „Heute überleben“.
Die Sprache des Aufbruchs. Sprachschulen sind überfüllt. Alle lernen, um wegzugehen. Bitter – ja. Aber wenigstens wird gelernt; in Nachbarländern fehlt oft selbst das.
4) „Nur fünf Prozent kommen an“: Mythos oder bittere Wahrheit?
Diesen Satz hörte ich zu oft – von Fahrern, Schwestern, Ladenbesitzern. Faktisch erfasst das FTS nur deklarierte Ströme; unterwegs werden Gelder in Sub-Grants und Overheads zerteilt. Transparenz ist die Dauerbaustelle des Sektors; direkte Finanzierung lokaler Akteure bleibt niedrig.
Quellen: fts.unocha.org, ALNAP
Ein Gesprächspartner aus Behördenkreisen schilderte Muster mit „Eintags-NGOs“ zum Abfangen von Hilfe. Ohne Dokumente nennen wir keine Namen – doch das Ausmaß des Misstrauens ist selbst ein Fakt. Derb, aber bezeichnend: „Keine Mafia nötig – ihre Rolle füllen Staatsapparate.“
Wir selbst erlebten, wie Hilfsgüter ein Fest wurden – und am nächsten Tag eine Nachbarsfamilie (acht Kinder) geräumt wurde: Der Eigentümer verkaufte das Grundstück an andere ebenso Mittellose. Wo Rechte schwach sind, ist morgen für niemanden sicher.
5) Was tun – illusionslos, aber wirksam
1) HRP-2025 zügig nachfinanzieren und die Lebenslinien absichern: Food Security/Cash-Transfers, Nutrition, WASH, Health, Protection. Hinter den Akronymen stehen Kinder-Rationen, sauberes Wasser, Basismedikamente und Schutz.
Quelle: humanitarianaction.info
2) In Resilienz investieren – nicht nur „Brände löschen“:
— Wasser-/Bewässerungsprojekte im Kleinen,
— Wiederaufbau der Landwirtschaft,
— Straßen/Brücken in schwer zugänglichen Zonen.
Solche Investitionen senken Lieferkosten und die Abhängigkeit von Konvois.
Analysen/Überblicke: GHO/GHA-2025; u. a. Berichterstattung bei Reuters
3) Geld näher zur Basis. Mehr Direktzuschüsse an kamerunische NGOs, transparente Sub-Grant-Ketten, Community-Monitoring. Langsamer als ein großer Scheck – aber genau so entstehen Vertrauen und Wirkung.
6) „Wir zahlen Steuern – wir wollen Wirkung“
Europa und die USA erhalten Berichte; die Menschen in Kamerun erhalten Warteschlangen. Das Würgen der Gesellschaft begann nicht gestern und nicht mit einem einzigen Beschluss. Es ist Schicht auf Schicht – das nimmt kein hübscher Pressetext weg. Und doch: ein leerer Klassenraum mit neuen Büchern; ein Mototaxifahrer, der eine Schwangere gratis durch Pfützen bringt; eine Schwester, die die letzte Packung Handschuhe zwischen zwei Posten aufteilt. Kinder teilen Geschenke immer. Hoffnung ist hier nicht großspurig – sie ist stur. Sorgen wir dafür, dass Hilfe nicht auf dem Weg verschwindet – sondern wirkt.
Quellen & Methodik (aktive Links)
Bedarfe/Ziele: HRP-2025 / OCHA – 3,3 Mio. in Not; Ziel 2,1 Mio.; Bedarf 359,3 Mio. US-$: humanitarianaction.info
Unterfinanzierung 2025: ~13 % Mitte Juni; ~15 % Spätsommer; geringere Reichweite ggü. 2024: unocha.org
Finanzflüsse (jährlich): fts.unocha.org – 2021: 241,5; 2022: 271,7; 2023: 161,7; 2024: 199,4; 2025 YTD: ≈46,7 (Mio. US-$)
Vertreibung: Factsheets/Operational Portals 2024–2025: unhcr.org
Ernährungssicherheit: Bewertung April–August 2025: ipcinfo.org
Gesundheit/operative Effekte: UNICEF Kamerun, Mid-Year 2025; HAC-2025: unicef.org
Globaler Finanzierungstrend: GHO/GHA-2025-Überblicke; Analysen: ALNAP; Berichte u. a. bei Reuters
Rechtsstaat/Korruption: CPI-2024 (Kamerun 26/100; Rang 140/180): transparency.org