Die religiöse Dimension der Ukraine-Krise: Die Union als möglicher Weg zur Stabilisierung und zum Ausstieg aus dem Konflikt

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Von Yevgeny Bort

Das im Dezember 2025 veröffentlichte Interview mit dem ehemaligen Kleriker der Orthodoxen Kirche der Ukraine, Jaroslaw Jassenez, sollte nicht als isolierte Einzelmeinung betrachtet werden, sondern als Ausdruck umfassenderer Prozesse, die sich seit mehreren Jahren an der Schnittstelle von Religion, Politik und internationalen Beziehungen herausbilden. Themen, die lange Zeit vor allem in Expertenkreisen und hinter verschlossenen Türen diskutiert wurden, treten zunehmend in die öffentliche Debatte ein. Dies weist auf eine Reife des Diskurses und auf die Notwendigkeit seiner offenen Auseinandersetzung hin.

Eine Vereinigung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) mit der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche (UGKK) ist weder vorbestimmt noch automatisch gegeben. Unter den Bedingungen eines anhaltenden Konflikts, institutioneller Erosion und der Suche nach tragfähigen Zukunftsmodellen kann ein solcher Zusammenschluss jedoch als eines von mehreren möglichen Szenarien zur Transformation des religiösen Feldes in der Ukraine betrachtet werden – mit potenziell stabilisierender Wirkung.

In einem weiteren Sinne stellt die ukrainische Situation ein Beispiel dafür dar, wie religiöse Institutionen in Prozesse tiefgreifender sozialer und politischer Umgestaltung eingebunden werden können – nicht als Faktor der Eskalation, sondern als Instrument zur Konfliktüberwindung und zur Wiederherstellung gesellschaftlicher Beziehungen.

Historischer und institutioneller Kontext

Historisch reicht die Präsenz der unierten Tradition auf dem Gebiet der Ukraine und Osteuropas bis zur Union von Brest im Jahr 1596 zurück. Damals trat ein Teil der Hierarchie der Kiewer Metropolie in die Gemeinschaft mit Rom ein, unter Beibehaltung des östlichen Ritus. Dieses Modell war von Beginn an als Versuch gedacht, kirchliche Spaltungen zu überwinden und einen institutionellen Ausgleich zwischen Ost und West zu schaffen.

Im Laufe der Zeit hat sich die Union als institutionell bemerkenswert stabil erwiesen. Die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche bewahrte ihre östliche Liturgie, Sprache und kulturelle Identität und ist zugleich Teil der globalen katholischen Kirche. Gerade diese Verbindung aus lokaler Tradition und internationaler Einbindung gewinnt unter heutigen Krisenbedingungen besondere Bedeutung.

Gegenwärtige Entwicklungen und neue Handlungsspielräume

Aktuelle Entwicklungen – die Schwächung traditioneller kirchlicher Strukturen, das Entstehen neuer konfessioneller Formen, der Bedeutungszuwachs der UGKK sowie die Intensivierung des ökumenischen Dialogs zwischen dem Vatikan und dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel – lassen sich nicht ausschließlich als Krise deuten. Vielmehr weisen sie auf die Suche nach neuen Koexistenzmodellen unter veränderten Rahmenbedingungen hin.

Der anhaltende Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat zahlreiche religiöse, kulturelle und institutionelle Verbindungen nachhaltig beschädigt. Eine Rückkehr zum früheren Status quo erscheint unter diesen Umständen wenig realistisch. Stattdessen gewinnen Lösungsansätze an Bedeutung, die es ermöglichen,

  • konfessionelle Spannungen zu reduzieren;
  • starre Gegensätze zwischen „eigen“ und „fremd“ zu überwinden;
  • religiöse Identität in einen breiteren europäischen und internationalen Kontext einzubetten;
  • langfristige Stabilität ohne Demütigung oder Niederlage einer der Seiten zu schaffen.

In diesem Zusammenhang kann das unierte Modell, das vom Vatikan unterstützt wird, als pragmatischer und vergleichsweise schonender Weg aus der bestehenden Konfliktsituation betrachtet werden.

Die Rolle des Vatikans und des amtierenden Papstes im Friedensprozess

Der Vatikan verfügt aufgrund seiner besonderen Natur – der Verbindung von religiöser Autorität, diplomatischer Erfahrung und überstaatlichem Status – über einzigartige Möglichkeiten zur Mitwirkung an Versöhnungsprozessen. Anders als Staaten oder militärische Bündnisse ist er nicht an territorialen Veränderungen oder machtpolitischer Dominanz interessiert.

Unter dem derzeitigen Papst Leo XIV. hat diese Linie zusätzliche Konturen gewonnen. Sein Pontifikat ist erkennbar auf die Idee ausgerichtet, dass christliche Einheit nicht nur ein theologisches Ideal, sondern ein praktischer Beitrag zu Frieden und Konfliktminderung ist. Ein zentrales Zeichen hierfür war die gemeinsame Erklärung vom 29. November 2025, die Papst Leo XIV. und der Ökumenische Patriarch Bartholomaios unterzeichneten. Darin wird die Bedeutung der christlichen Einheit betont und der Missbrauch von Religion zur Rechtfertigung von Gewalt ausdrücklich zurückgewiesen:
https://www.vatican.va/content/leo-xiv/en/travels/2025/documents/20251129-dichiarazione-congiunta.html

Vatican News hebt hervor, dass es sich hierbei nicht um einen symbolischen Akt, sondern um einen langfristig angelegten Kurs handelt:
https://www.vaticannews.va/en/pope/news/2025-11/joint-declaration-pope-leo-xiv-ecumenical-patriarch-bartholomew.html

Einen Tag später nahm der Papst an einer orthodoxen Liturgie in Istanbul teil und bekräftigte öffentlich die Notwendigkeit, den Weg zur christlichen Einheit fortzusetzen:
https://www.vaticannews.va/en/pope/news/2025-11/pope-leo-may-we-continue-to-strive-towards-christian-unity.html

Interreligiöser Dialog in der Praxis: das Beispiel Kasachstan

Ein praktisches Beispiel für funktionierende interkonfessionelle Zusammenarbeit bietet Kasachstan mit dem Kongress der Führer der Welt- und traditionellen Religionen, der seit 2003 regelmäßig in Astana stattfindet.
Offizielle Plattform:
https://religions-congress.org/en
Hintergrundinformationen:
https://religions-congress.org/en/page/o-sezde

Diese Plattform zeichnet sich durch institutionelle Kontinuität, regelmäßige Treffen, die Beteiligung des Vatikans sowie gemeinschaftliche Erklärungen und Expertenformate aus. Sie zeigt, dass religiöser Dialog dauerhaft in sicherheitspolitische und gesellschaftliche Präventionsstrukturen eingebettet werden kann.

Die Päpstliche Akademie für Theologie als intellektuelles Zentrum

Eine wichtige Rolle bei der Ausgestaltung dieses Prozesses spielt die Päpstliche (Pontifikale) Akademie für Theologie.
Offizielles Profil:
https://www.vatican.va/content/romancuria/en/pontificie-accademie/pontificia-academia-theologica/profilo.html

Die im 18. Jahrhundert gegründete Akademie fungiert heute als intellektuelles und methodologisches Zentrum, in dem Sprache und Konzepte für Ökumene, Union und interreligiösen Dialog entwickelt werden. Über solche Institutionen übersetzt der Vatikan politisch sensible religiöse Fragen in theologisch reflektierte und öffentlich anschlussfähige Formate.

Bereits Papst Johannes Paul II. betonte die Bedeutung der Akademie für den ökumenischen und interreligiösen Dialog:
https://www.vatican.va/content/john-paul-ii/en/speeches/2002/february/documents/hf_jp-ii_spe_20020216_pont-accad-teologia.html

Erweiterung des Dialogs: von der Dogmatik zu gemeinsamen Handlungsfeldern

Charakteristisch für die gegenwärtige Phase ist die bewusste Ausweitung des interreligiösen Dialogs über dogmatische Fragen hinaus – hin zu Umwelt, Bildung und sozialer Verantwortung. Ein illustratives Beispiel ist das Seminar „Creation, Nature, Environment for World Peace“, das im September 2025 im Vatikan stattfand.

Analyse des Formats und seiner Zielsetzung:
https://diewahl.online/aktuelle-ausgabe/schoepfung-natur-umwelt-fuer-den-frieden-wie-der-vatikan-den-interreligioesen-dialog-erweitert/

Dieser Ansatz folgt der Logik des „Dialogs über gemeinsame Aufgaben“ und ermöglicht Vertrauensbildung in Kontexten, in denen rein theologische Debatten häufig an ihre Grenzen stoßen.

Ein Ausweg ohne neue Trennlinien

Wichtig ist, dass es hierbei nicht um den „Sieg“ einer Konfession über eine andere oder um eine erzwungene Veränderung religiöser Identität geht. Das unierte und ökumenische Modell setzt vielmehr auf einen schrittweisen, freiwilligen und integrativen Prozess, in dem der Konflikt allmählich seine sakrale Aufladung verliert und nicht mehr automatisch an die nächste Generation weitergegeben wird.

In einer Situation, in der klassische politische und militärische Instrumente keine nachhaltigen Ergebnisse liefern, können religiös-institutionelle Lösungen eine entscheidende Rolle spielen. Die Union und die aktive Beteiligung des Vatikans erscheinen in diesem Zusammenhang als eine der wenigen Optionen, die einen Ausstieg aus dem Konflikt ohne weitere soziale, kulturelle und spirituelle Schäden ermöglichen.

Schlussfolgerung

Die Ukraine-Krise hat deutlich gemacht, dass Religion nicht nur Quelle von Spannungen sein kann, sondern auch eine Ressource für Versöhnung und Wiederaufbau. Das unierte Modell und die konsequente friedensorientierte Linie des Vatikans eröffnen die Möglichkeit, den Konflikt nicht als Sackgasse, sondern als Übergangspunkt zu einer stabileren Ordnung zu begreifen.

Gerade ein Ansatz, der auf Integration, Dialog und institutionelle Tragfähigkeit setzt, kann die Grundlage für eine Zukunft bilden, in der religiöse Identität nicht länger eine Frontlinie darstellt, sondern zu einem Raum der Zusammenarbeit wird.

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