NAWALNY-VERTRAUTER: „In Nawalnys Zelle gelten ganz besondere Regeln“

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Ruslan Schaweddinow ist einer der engsten Mitarbeiter des inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny. Laut dem Dissidenten treibt das russische Regime den Kremlkritiker mit Schikane und Folter langsam in den Tod. Dabei erhebt er einen bestimmten Vorwurf.

Dem inhaftierten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny könnte wegen neuer Vorwürfe eine lebenslange Gefängnisstrafe drohen. Diesmal wird Nawalny Extremismus und Terrorismus vorgeworfen. Der russische Oppositionelle berichtete bei einer Anhörung, ihm sei mitgeteilt worden, dass er vor ein Militärgericht gestellt werden solle. Die neuen Vorwürfe gegen Nawalny richten sich demnach gegen die Arbeit von dessen Anti-Korruptions-Stiftung.

Doch das drohende Strafmaß ist nicht alles, was Unterstützern des Oppositionellen derzeit Sorgen macht. „Was uns aber am meisten beunruhigt, ist sein Gesundheitszustand“, erklärt Ruslan Schaweddinow, ein enger Mitarbeiter Nawalnys im Interview. „Sie bringen ihn langsam um.“

WELT: Ist Nawalny Ihrer Ansicht nach in Lebensgefahr?

Ruslan Schaweddinow: Alexej hat in zwei Wochen acht Kilo abgenommen. Er leidet unter plötzlichen Anfällen. Wir wissen nicht, was das für eine Krankheit ist, für die er auch nicht behandelt wird. Seine Anwälte haben den Verdacht, dass man ihm Gift in kleinen Dosen verabreicht, etwas, das langsam wirkt, sodass sich sein Gesundheitszustand nicht plötzlich, sondern allmählich verschlechtert. Wir können das nicht ausschließen. Wenn es sich um jemand anderen handeln würde, könnte man das für Paranoia halten, aber hier geht es um Nawalny. Er ist ja bereits mit dem Nervengift Nowitschok vergiftet worden und hat nur wie durch ein Wunder überlebt. Wir machen uns alle große Sorgen. Das Gefängnis an sich belastet schon die Gesundheit der Gefangenen. Hinzu kommt, dass er permanent komplett isoliert wird. Wir haben fast keinen Kontakt mehr mit ihm und wissen nicht, was mit ihm geschieht. Darüber zu sprechen ist die einzige Möglichkeit, ihm zu helfen.

WELT: Welches sind die Symptome, die Sie eine Vergiftung vermuten lassen?

Schaweddinow: In der Nacht vom 7. zum 8. April wurde ein Krankenwagen gerufen, da Alexej starke Magenschmerzen hatte. Das ist nichts Neues. Die hat er seit Januar regelmäßig, wurde aber bislang nie medizinisch untersucht, sie haben ihn auch nie in ein Zivilkrankenhaus gebracht. Auch seine Mutter darf ihm keine Medikamente zukommen lassen. Die Pakete, die sie an ihn geschickt hat, kamen postwendend zurück. Im Januar versuchten sie, die Schmerzen mit Antibiotika zu behandeln, was aber nicht funktionierte. Hinzu kommt, dass sie ihm verbieten, sich in der Kantine der Strafkolonie Lebensmittel zu kaufen. Auf diese Weise zwingen sie ihn, das zu essen, was in der Gefängnisküche zubereitet wird, und das verschlimmert seinen Zustand noch.

WELT: Am 10. April wurde Nawalny, ohne Rücksicht auf seine Erkrankung, in eine Isolationszelle gesteckt – und das bereits zum dreizehnten Mal seit August. Ist das legal? Wie viele Tage hat er mittlerweile so verbracht?

Schaweddinow: Er wurde am Freitagabend (14. April, Anm.) aus der Isolationshaft entlassen, am Montag jedoch schon wieder für weitere 15 Tage dort eingesperrt. Das kommt seit August immer wieder vor. Kaum kommt er heraus, sperren sie ihn wieder dort ein. Für geringfügige Regelverstöße oder auch ohne irgendeine Erklärung. Unseren Schätzungen zufolge hat er seit August etwa 150 Tage in Isolationshaft verbracht (Stand 19. April, Anm.). Und nein, das ist nicht legal. Aber für Nawalny gelten keinerlei Gesetze, nicht einmal die russischen. Sie haben ihm seinen Alltag zur Hölle gemacht und ihm illegale Vorschriften und Verbote auferlegt. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass seine Verhaftung und seine Verurteilung an sich schon rechtswidrig waren, wie ja auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bestätigt hat.

WELT: Wie sehen die Haftbedingungen in einer dieser Isolationszellen, der sogenannten „Shizo“, aus?

Schaweddinow: Die Isolierung ist die schwerste Strafe, die es in einem russischen Gefängnis gibt. Der „Shizo“ ist eine winzige Zelle, nur zwei mal drei Meter groß. Dort gelten ganz besondere Regeln: besonders frühes Wecken und eine begrenzte Zeit zum Schlafen. Tagsüber wird das Bett hochgeklappt und an der Wand befestigt. Alexej kann sich nicht hinsetzen oder hinlegen, er kann nur stehen. Es gibt kein natürliches Licht, sondern nur minderwertiges Kunstlicht, so dass alle Gefangenen im „Shizo“ schlecht sehen. Die Kommunikation ist eingeschränkt. Es gibt nur wenig Zeit zum Schreiben, Briefe lesen oder für Bücher. Die Gefängnisleitung isoliert Nawalny immer mehr. Zu den Anhörungen bringen sie ihn nicht ins Gericht, sondern lassen ihn nur per Videoschaltung dabei sein.

WELT: Wie oft darf Nawalny seine Anwälte oder Familienangehörige sehen?

Schaweddinow: Treffen dieser Art sind sehr selten und eingeschränkt. Sowohl für die Anwälte als auch die Familienangehörigen. In letzter Zeit finden die Treffen zwischen Alexej und seinen Anwälten in einem speziellen Raum statt, in dem sie durch eine verdunkelte Glasscheibe getrennt werden. Dort können sie sich sehen und miteinander sprechen, wenn Nawalny die Erlaubnis erhält, persönlich zu den Anhörungen zu erscheinen. Diese finden häufig statt, da Alexej regelmäßig Einspruch gegen die Schikanen erhebt, denen er im Gefängnis ausgesetzt ist. Im Oktober wurde ein neues Strafverfahren gegen ihn eröffnet, wegen angeblicher „Unterstützung von Terrorismus“ sowie „Finanzierung von extremistischen Aktivitäten“, mittlerweile auch wegen „Behinderung von Maßnahmen der Strafvollzugsanstalt“. Außerdem beschuldigt der FSB (Inlandsgeheimdienst der Russischen Föderation, Anm.) den FBK (Nawalnys Stiftung für Korruptionsbekämpfung, Anm.), den Anschlag in St. Petersburg angestiftet zu haben, bei dem der Militärblogger Wladlen Tatarski getötet wurde.

WELT: Wie werden sich diese Anschuldigungen auf seinen Prozess auswirken?

Schaweddinow: Es gibt keinerlei Zweifel daran, dass die Behörden ständig nach neuen Vorwänden suchen, um die Haftstrafe Nawalnys immer weiter zu verlängern. Seit er 2021 verhaftet wurde, hat man ein Dutzend neuer Strafverfahren gegen ihn eingeleitet. Ihm drohen insgesamt 35 Jahre Haft. Man will ihn lebenslang im Gefängnis einsperren.

Quelle: https://www.welt.de/politik/ausland/article245029166/Russland-Nawalny-hat-in-zwei-Wochen-acht-Kilo-abgenommen-Sie-bringen-ihn-langsam-um.html

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